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Saufnix  
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Dieses Thema hat 16 Antworten
und wurde 1.620 mal aufgerufen
 Positives
Seiten 1 | 2
spannikind Offline




Beiträge: 26

25.11.2006 11:32
RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Guten Morgen, Ihr alle!

Jetzt lese ich schon so lange hier herum, und habe auch schon ein bisschen geschrieben, dass ich denke, so langsam wird es Zeit, etwas von mir zu erzählen.

Letztendlich war Legolas Thread der Tropfen, der noch gefehlt hat. Das, was sie von sich und ihrem Freund schreibt, hätte ich vor 5 Jahren auch erzählen können.
Das hat mich dazu bewegt, mich einmal umzudrehen und zurückzuschauen.

Oft wird hier im Forum geraten, einen Alkoholiker fallenzulassen, sich zu trennen. Viele schreckliche Schicksale sprechen dafür, viele Angehörige sind so tief mit in die Sucht verstrickt, dass sie allein nicht wieder herausfinden.
Mir hat niemand geraten oder zur Seite gestanden.
Ich habe mich nicht getrennt. Es war nicht immer leicht, und es war nicht immer schön. Ich habe viel geweint, und ich hatte harte und einsame Zeiten.
Aber jetzt sitze ich hier und schaue mich um, und so, wie es jetzt ist, so ist es gut. Jetzt bin ich glücklich, und alles, was mich hierher gebracht hat, hatte seinen Sinn. Es hat sich gelohnt.

Ich war nie ein Mensch, der gern allein ist. Das hat mich dazu veranlasst, mich von einer Beziehung in die nächste zu werfen und jedesmal fürchterlich zu klammern. Die meisten Männergeschichten waren nach dem Motto "Scheißegal, Hauptsache nicht allein!"
Katastrophe vorprogrammiert.
So eine Beziehung hatte ich auch mit M., dem Vorgänger von meinem Mann. Ich war nur noch da, weil ich nicht wußte, wohin sonst. 150 km von zu Hause, ohne Kontakte, ohne Freunde. Er hat mich systematisch isoliert, mit freundlicher Unterstützung seiner Mutter. Die beiden hatten mich im Lauf der Zeit so kleingekriegt, dass ich der festen Überzeugung war, ohne sie nicht existieren zu können.
Der einzige, na ja, Vertraute, den ich damals hatte, war A.
Und meine Tiere. Meine Ziegen, meine Hasen und mein Pferd.

In diese Isolation platzte Tom. Über einen Bekannten eines Freundes......... geriet ich an ihn, er wurde mir als preiswerte und zuverlässige Alternative zur Kfz- Werkstatt vorgestellt. Er schraubte in einer alten Scheune an Autos, und da ich nicht viel Geld hatte (ging alles für M´s Flausen drauf), versuchte ich es mit ihm. Da er keinen Führerschein hatte, fuhr ich ihn dorthin.
Sehr schnell wurde diese Scheune für mich zur Fluchtburg, und das "kaputte" Auto zur Ausrede, von zu Hause wegzukommen.
Irgendwie mochte ich den Eigenbrötler Tom, der mich geduldigst in die Geheimnisse eines Verbrennungsmotors einführte. Dass er soff, störte mich nicht im Mindesten. Er arbeitete gut und zuverlässig, und abgeschossen hat er sich erst, wenn er fertig war. Während der Arbeit hiel er nur seinen Pegel, damit ihm nicht der Schraubenschlüssel aus der Hand fiel.
Ich bin immer öfter abends mit zu ihm gefahren. Dort sammelte sich immer ein Clübchen von Leuten, es wurde gelacht und getrunken, ich war nicht allein, keiner stellte irgendwelche Ansprüche, niemand wollte etwas von mir. Ich fühlte mich wohl. Vielleicht auch, weil Tom und seine Saufkumpanen genau das Gegenteil von dem Heile- Welt- Getue und der krampfhaften Bürgerlichkeit von M. und seiner Familie darstellten.
Zu Hause hatte ich natürlich die Hölle auf Erden. Die Eifersucht und die Vorwürfe uferten schließlich dahingehend aus, dass M. mit einem Stuhl auf mich losging. Gottseidank war A. da und ist dazwischengegangen, sonst wär´s das wohl mit mir gewesen.

Ich floh zu Tom. Dort blieb ich die nächsten Tage, die Jungs schotteten mich ab, und ich hatte meine Ruhe. M. gab schließlich auf, und nachdem Tom das Schloß an meiner Haustür ausgewechselt hatte, traute ich mich auch wieder nach Hause.

Zu dem Zeitpunkt war ich in einem derart desolaten Zustand, dass mir alles egal war. Ich nahm alles wie durch Watte wahr, nichts berührte mich wirklich. Mein Job, die Tiere, die Wohnung, das Auto,alles ging den Bach runter, ich kümmerte mich um nichts mehr. Tom war nach wie vor mein Fluchtpunkt. Dass er soff wie ein Loch, war mir damals noch so Wurst wie alles Andere.



Oha. Da hab ich wohl eine Lawine losgetreten.
Anscheinend ist da doch noch mehr, was unbedingt rauswill, als ich dachte...
Ich glaube, ich schreibe in Häppchen weiter, sonst wird mir das alles zuviel auf einmal.

Ich hätte tatsächlich nicht gedacht, daß mir diese alte Kiste noch so nachläuft. Jetzt sitze ich hier, und alles ist wieder da, vielleicht ist es gut so.

Ich lasse das hier bei "Positives" stehen, wenn ich darf, denn letztlich geht das alles ja gut aus, heute bin ich glücklich verheiratet, Tom ist seit 2 1/2 Jahre trocken, und es geht bergauf.

Grüße an Euch alle, Fortsetzung folgt.

Tanja


clarissa Offline




Beiträge: 96

25.11.2006 23:12
#2 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hi

Das haste sehr gut geschrieben,sind wir dann irgendwie doof

ironisch gemeint

Wir co

es ist ein schwerer Weg...

weiterhin viel Glück Euch


Clari


spannikind Offline




Beiträge: 26

26.11.2006 12:42
#3 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Guten Morgen, Saufnixe,
Guten Morgen, Clarissa!

Nein, ich wollte niemanden für doof verkaufen .
Irgendwas scheint aber bei mir grundlegend anders gelaufen zu sein als bei vielen anderen, die hier im Board schreiben. Irgendwas, das mich davor bewahrt hat, zusammen mit Tom unterzugehen.

Einerseits hatte ich sicherlich ganz viel Glück. Andererseits war es kurioserweise Tom selbst, der für eine gewisse Distanz gesorgt hat und mich auf Abstand hielt, wenn ich zu nah kam. Ein Abstand, der für uns beide sehr gesund war.

Er war nicht in der Lage, Nähe zuzulassen, und ich hatte massive Schwierigkeiten, allein zu sein.
Wir lernten voneinander. Er lernte zu ertragen, daß ihn jemand gern hat und sich um ihn sorgt, ich lernte, mich auf mich selbst zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen. Er hat mich davon abgehalten, meinen Selbstwert über ihn zu definieren. Das hatte ich ja bis dato bereits zur Perfektion gebracht und war damit immer wieder bös aufs Gesicht gefallen.

Das half mir, seinen Rückfall 2002 zu ertragen.
Ende 2001 hatte Tom eine Magenspiegelung machen lassen und quasi nebenbei eine Woche entgiftet. Die Ärzte stellten eine Varize in der Speiseröhre fest.
Zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß das, was er da treibt, tatsächlich lebensgefährlich ist. Bisher hatte ich mir eher Sorgen gemacht, daß er besoffen die Treppe runterfällt oder sowas. Daß er sich de Facto totsaufen könnte, habe ich so gar nicht gesehen (sehen können? Wollen?).
Während er im Krankenhaus war, mistete ich seine Wohnung aus. Allein die Bierdosen füllten 10 Müllsäcke (plattgedrückt, selbstverständlich). Für das Altglas brauchte ich mehrere Anläufe. Ich stellte die paar Möbel um und putzte die Fenster. Am Ende war es mir gelungen, einen Anflug von Gemütlichkeit in Toms Räuberhöhle zu zaubern. Ich hatte sogar einen kleinen Weihnachtsbaum besorgt.
Freude oder Dankbarkeit konnte er nicht zeigen. Einmal hatte er nie gelernt, Gefühle zu zeigen oder zuzulassen. Andererseits bekam er Medikamente, Campral, und noch was gegen Stimmungsschwankungen, glaub ich, so dass er noch zusätzlich gedämpft war. Seine Ärztin war damals auf dem Trip, er hat allein gesoffen, also muß er jetzt auch allein da raus, keine Empfehlung von wegen Therapie oder Gruppe oder sowas. Die hat ihm nur das Campral verschrieben und ihn dann laufen lassen.
Er schlief viel, wenn er nicht gerade schraubte, und ich war oft unterwegs. Gesprochen haben wir also nicht viel, zumal er mich auch nicht immer um sich haben wollte.
Tom zog sich immer mehr zurück. In der Firma, in der er sich oft aufhielt, kam er mit den „Gangster- Methoden“ nicht klar, und daß die Leute ihm dort die Nase lang machten, half auch nicht gerade. „Willste auch ´n Bier?- Ach nee, Du darfst ja nicht, höhö“
Lang hielt er das nicht durch.

Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie ich reagiert habe. Enttäuscht war ich, klar, ich hatte mich ja auch gefreut, daß er nichts trank. Ich hab auch versucht, ihm das klarzumachen.
Der Versuch endete darin, daß wir uns gegenseitig genau die Vorwürfe machten, die ich eigentlich hatte vermeiden wollen. Außerdem wäre es ja sein Leben, und wenn ich damit nicht klarkäme, sollte ich halt gehen.

Ich ging. Heute weiß ich, daß er mich rausgeworfen hat, weil er sich schämte. Er war wieder der Versager, und er konnte nicht ertragen, daß ich ihn genau dafür hielt. Daß ich das nicht tat, paßte nicht in sein Selbstbild, und er wollte nichts davon hören. Das hieß für ihn, daß ich ihn anlüge.
Wir haben später viel darüber geredet, damals konnten wir das nicht.

Der Untermieter, den ich damals hatte, konnte nicht zahlen, ich mußte meine schöne große Wohnung aufgeben. Die Hoffnung, daß Tom mit einzog, hatte ich begraben. Unser Verhältnis hatte sich auf der Stufe einer losen Freundschaft eingependelt.
Ich zog also um, kein einfaches Unterfangen, mit zwei Hunden eine Wohnung zu finden.
Plötzlich trennten mich nicht mehr 50 Meter, sondern 15 Kilometer von Tom. Für mich eine völlig neue Situation, allein zu sein. Die Tatsache, daß ich nachts in einem Club kellnerte, machte es erträglicher, einsame Nächte waren mir immer schon ein Greuel gewesen. Tagsüber allein zu schlafen war nicht so schlimm.
Anfangs spärlich, bald immer öfter kamen nachts SMS von Tom. Reden ging nicht, aber Tippen war drin. Wenn seine Saufkumpanen weg waren, erinnerte er sich daran, daß da noch jemand war. Ich ließ mich breitschlagen, nach der Arbeit zu ihm zu fahren. Manchmal brachte ich ihm von der Tankstelle noch was mit.
Die Nächte wurden unsere Zeit. Sturzbesoffen schaffte er es, alles an Frust, Wut und Ärger herauszulassen. Ich war einfach nur da. Es war, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen.
Tom brüllte und heulte, manchmal tobte er wie ein Troll durch die Wohnung. Oft ging irgendetwas zu Bruch.
Angst brauchte ich nicht zu haben. Seine Agression hatte mit mir nicht das geringste zu tun. Er hat mich nie angefasst, bis heute nicht. Seine Wut richtete sich gegen seinen Vater, gegen die Gesellschaft, gegen den Tod seiner Mutter, gegen sich.
Vor allem gegen sich.
Manchmal versuchte er sich selbst zu verletzen. Das war für mich das Schlimmste. Ich versuchte, ihn davon abzulenken, oft half es, wenn ich ihm irgendwas in die Hand gab, was er zerdrücken oder zerreißen konnte.
Manchmal waren es auch meine eigenen Hände. (Sie haben es unbeschadet überstanden...)
Nach einem solchen Ausbruch war er völlig fertig, manchmal lag er danach tagelang im Bett und war nicht ansprechbar.

Aus dem, was er nachts so herausließ, konnte ich mir allmählich ein Bild machen von dem, was er mit sich herumschleppte. Ich ließ das unkommentiert, er hätte sich nur wieder zurückgezogen.


Dieses Spiel zog sich über fast ein einhalb Jahre. Inzwischen war ich wegen Streß mit dem Vermieter wieder umgezogen, diesmal zu Tom in die Wohnung. Meine Möbel standen in dem Haus, das ich für einen Spottpreis gemietet hatte, und das wir renovierten. Wir wollten dort gemeinsam einziehen.
Dieses halb renovierte Fachwerkhaus war Toms Rückzugsmöglichkeit, wenn er wieder allein sein mußte.
Ende 02 war Tom nach einem Zusammenbruch in der Landesnervenklinik, aber wie schon bei der ersten Entgiftung hatte er nichts an die Hand bekommen, was ihm geholfen hätte, endgültig das Saufen zu lassen.

Dieses Werkzeug bekam er später, aber das will ich ein andermal erzählen.

Ich glaube, es sind im wesentlichen zwei Dinge, die bei mir anders gelaufen sind: Er hat es nicht geschafft, mich zu belügen, und er hat mich nicht geschlagen. Tom hat sehr schnell gemerkt, daß ich ihn durchschaue, und er hat es auch nie für nötig gehalten, zu lügen.
Und agressiv war er, wie gesagt, nur gegen sich selbst. Das hätte ich auch nicht noch einmal mitgemacht.

Vielen Dank an alle, die mir ermöglicht haben, meine Altlasten hier zu lassen, ich merke beim Schreiben, wie mir das hilft.

Liebe Grüße an alle,

Tanja


Teichmann Offline




Beiträge: 173

26.11.2006 23:37
#4 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hallo Tanja,

berichte bitte weiter, es liest sich so gut wie ein Roman.
Einer, den das Leben schrieb, das sind eh die besten.


Liebe Grüsse
Teichmann


spannikind Offline




Beiträge: 26

27.11.2006 11:36
#5 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Guten Morgen an alle!

Nein, solche Geschichten, wie sie hier im Board stehen, könnte sich kein Mensch ausdenken. Sowas können nur Leute erzählen, die das erlebt haben.

Ich finde es wichtig, davon zu erzählen, gerade weil die meisten Menschen nichts davon hören wollen. Die, die es vielleicht am nötigsten hätten, mal zuzuhören und nachzudenken, weichen am häufigsten aus.
Wenn mir damals einer was erzählt hätte, wäre vielleicht manches anders gekommen.
Hätte, wenn, aber.
Hat keiner, und ob ich auf irgendwen gehört hätte, ist ohnehin sehr fraglich.

Mit zwei Mann und zwei Hunden auf 28 Quadratmetern gibt es zwangsläufig Reibereien. Um die wirklich großen Sachen brauchten wir nicht zu streiten, die ergaben sich meist von allein, da wir eine ziemlich ähnliche Weltanschauung haben und uns oft einig sind. Es war meist kleinlicher Alltagskrempel, um den wir uns gezofft haben. Ich bin nicht bange vor einem gepfefferten Streit, den kriegt dann auch zur Not die dritte Nachbarschaft mit, deshalb ging es jedesmal richtig zur Sache.

Es lief meist nach dem selben Schema: Er begann zu sticheln. Er wußte ganz genau, womit er mich auf die Palme bringen konnte. Ich bin dann auch programmgemäß ausgeflippt, er stichelt weiter, bis mir die von ihm sorgfältigst zerlegten Argumente ausgehen und ich unfair und beleidigend werde. Das war dann der Moment, mich entweder rauszuwerfen oder selber zu gehen.
Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist es ein ungelöster Streit. Ich habe allerdings irgendwann begriffen, daß ich mehr erreiche, wenn ich ihn laufen lasse. Anfangs lief er noch tagelang, mit der Zeit brauchte ich nicht mehr so lange zu warten, bis er wiederkam.
Das gab mir andererseits die Möglichkeit, mich zu fangen und wieder sachlich zu werden.
Ich habe mir angewöhnt, solche Streitereien zu hinterfragen. Was war da überhaupt los, worum ging es eigentlich? Mit Sicherheit nicht um die vergessene Kaffeetasse.
Anfangs sträubte er sich und blockte ab. Mit viel Geduld gelang es mir aber, das System hinter den Streitereien aufzudröseln.
Im Lauf der Zeit hatte ich ein Gespür dafür entwickelt, in welcher Verfassung ich Tom erwischen mußte, damit ein Gespräch zustande kommen konnte. Diese Gelegenheiten waren selten, deshalb war ich bemüht, keine davon verstreichen zu lassen.
Irgendwann schaffte ich es aber auch, ihn ganz gezielt in die richtige Stimmung zu bringen, so dass ich wesentlich öfter die Chance hatte, vernünftig mit ihm zu reden.

Es lief im Prinzip immer auf das gleiche heraus: auf die verkrachte Beziehung zu seinem Vater. Das, was ich tat, nämlich ihn lieben, stand im Gegensatz zu dem, als was er sich sah, nämlich als Versager. Das bekam er nicht in Einklang, deshalb bemühte er sich, die Realität wieder mit seinem Selbstbild stimmig zu machen.
Ein Versager war er nunmal, also mußte ich weg. Er konnte mich nicht selbst verlassen, also mußte ich von allein gehen. Und wie ekelt man am gekonntesten jemanden raus? Mit einem saftigen Streit natürlich.
Außerdem ein prima Grund, sich mal wieder so richtig schön abzuschießen, wenn die Frau rumzickt.

Es stellte sich heraus, daß das Haus, das ich gemietet hatte, an und für sich nicht mehr bewohnbar war. Je mehr wir renovierten, desto mehr Mängel traten zutage. Den Ausschlag, das Projekt abzubrechen, gab die Tatsache, dass wir beide Kamine nicht abgenommen bekamen und das Haus ergo nicht zu beheizen war. Elektrisch kam nicht in Frage.
Wir begannen also, uns anderweitig umzusehen.

Mittlerweile war uns klar, daß wir trotz aller Widrigkeiten zusammen waren und das auch bleiben wollten. Wir hatten viele gemeinsame Interessen, und alles in allem kamen wir gut miteinander aus.
Zwar bewegte sein Alkoholkonsum sich nach wie vor in astronomischen Dimensionen, und das war auch meist der Anlaß für mich, einen Streit vom Zaun zu brechen.
Es störte mich, wenn er unzuverlässig war, Versprechen nicht hielt oder so besoffen war, daß er es nicht bis nach Hause schaffte.
Und ja, ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht, daß ihm irgendetwas passiert. Daß er besoffen vor ein Auto läuft. Daß seine Leber schlappmacht. Daß seine Krampfader platzt. Daß er einschläft und an seinem Erbrochenen erstickt. Daß er einfach endgültig umfällt.
Ich habe manchmal nächtelang durchgemacht, um auf ihn aufzupassen. Er hat da gar nichts von mitbekommen. Auch nicht, daß ich ihn die Treppe hoch und ins Bett geschleppt habe. Oder stundenlang den Weg zur Scheune rauf und runter gefahren bin, weil es 5 Grad Minus waren und er irgendwo lag und schlief.

Meine Arbeitskollegin hat mich neulich mal gefragt, warum ich mir das eigentlich alles angetan habe.
So spontan hatte ich keine Antwort parat. Hab ich im Prinzip immer noch nicht.
Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß es sich lohnt, ihm eine Chance zu geben. (Eine? Ich hab nicht mitgezählt...)
Er tat mir gut. Jahrelang habe ich unter Blackouts gelitten. Seit ich Tom kenne, hatte ich nur noch einen, ganz am Anfang. Ich hatte Gelegenheit, zu lernen.
Ich bin gewachsen in der Zeit, selbstbewußter geworden.
Ich hatte Raum für mich selbst, er hat ihn mir quasi aufgezwungen. Raum, der mir früher gefehlt hat, den ich mir nie genommen habe.
Dadurch, daß er meine Klammereien so konsequent abgewehrt hat, hatte ich die Chance, mich selbst zu finden.

Schon kurios. Aber ich glaube, daß diese Beziehung für uns beide genau das Richtige war. Wir haben voneinander gelernt.
Es gab Phasen, da hatte ich das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Aber dann passierte irgendwas, das mir gezeigt hat, ich habe etwas bewirkt. Etwas von dem, das ich getan oder gesagt habe, ist angekommen.

Es ging immer zwei vor, eins zurück. Aber es ging. Langsam und vorsichtig. Tom hat immer eine kleine Ewigkeit gebraucht, um irgendetwas zu verarbeiten. Aber wenn er einmal was begreift, dann sitzt es.

Steter Tropfen höhlt den Stein, heißt es.
Bei Tom hat es viele kleine Tropfen gebraucht. Angefangen nachzudenken hat er schon, als die Varize festgestellt wurde. Dann tröpfelte es nach und nach weiter. Sein Freund Manni starb, ihm ging es immer schlechter, es schmeckte auch nicht mehr, es machte keinen Spaß mehr. Er mochte sich nichtmal mehr im Spiegel ansehen.

Wir ließen das Haus Haus sein und zogen in eine schöne große Wohnung. Aus der diffusen Idee zu heiraten wurde Realität. Tom stellte sich auf die Hinterbeine und meldete sich zur Meisterschule an.
Das war dann der Tropfen, der das berühmte Faß zum überlaufen brachte: Es ging einfach nicht mehr. Plötzlich stand er ganz konkret vor der Wahl : Alkohol oder Leben. Die Schule war ganz einfach nicht zu schaffen, wenn er trank. Die Prüfung der ersten beiden Teile schaffte er nur mit Glück. Dann kam eine Pause von fast 6 Monaten, bis die fachbezogenen teile stattfanden.

Diese Pause hat er genutzt, um sich endgültig von seinem alten Freund zu verabschieden.


Ich verabschiede mich auch für heute, die Arbeit ruft.
Einen gute Woche wünsche ich allen,
und liebe Grüße,

Tanja


Lotte01 Offline




Beiträge: 514

27.11.2006 12:39
#6 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hallo Tanja,

hab nur zwei kleine Fragen, hab irgendwie den genauen Überblick verloren. Wieviel Zeit verging eigentlich genau von Eurer ersten Begegnung bis zu Tom's trocken werden? Wie lange ist er jetzt trocken?

Danke!

[ Editiert von Lotte01 am 27.11.06 17:21 ]


spannikind Offline




Beiträge: 26

27.11.2006 21:12
#7 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hi, Lotte!

Nur ganz kurz ein paar Eckdaten: Kennengelernt haben wir uns August 2000. Meine Trennung von M. war Anfang Februar 2001.
02 /2002 bis 09/2002 habe ich allein gewohnt, bis 03/2003 mit Tom zusammen in der alten Wohnung. Seitdem wohnen wir hier. 06/2003 war Hochzeit, und seit dem 15.04.2004 ist er trocken.

Ich habe anscheinend ein wenig die Chronologie vernachlässigt...Macht aber nix, sortieren kann ich ja immer noch.

Lieben Gruß,

Tanja


Seele62 Offline



Beiträge: 635

29.11.2006 09:28
#8 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Liebe Tanja,
deine Geschichte hat mich sehr berührt, ganz tief im Herzen.
Da sieht man wieder, es muß nicht jeder Weg gleich verlaufen.
Wahrscheinlich hast Du ganz unbewusst gespürt, dass sich der Kampf lohnt.
Und Tom hat Dir geholfen, Dein Thema anzuschauen.
Ihr habt Euch einfach gebraucht und an Zufälle glaube ich schon lange nicht mehr.

Ich freue mich unglaublich für Dich, dass Alles doch noch gut ausgegangen ist. Es war nichts umsonst.
LG
Seele


spannikind Offline




Beiträge: 26

29.11.2006 15:46
#9 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hallo, Ihr alle!

Nein, ich glaube nicht an Zufälle.
Ich glaube allerdings auch nicht daran, daß unsere Lebensgeschichte schon geschrieben ist, jedenfalls nicht im Detail.
Ich glaube eher, daß der alte Mann da oben ab und zu mal einen Schubs in die richtige Richtung gibt und es uns überläßt, was wir draus machen.

Ich halte auch nichts von diesem verliebten „Wir sind füreinander bestimmt“- Gesäusel.
Daß wir beiden gut füreinander sind und immer noch aneinander wachsen, ist eine ganz andere Geschichte.

Ich weiß nicht mehr, wann ich konkret das erste Mal festgestellt habe, daß ich Tom liebe.
Das war so ein Engelchen – Teufelchen- Spiel. Herz sagt, ich liebe ihn, und Verstand sagt, Finger weg!
Ich wollte ihn nicht.
Nicht ihn, nicht seine Sauferei und nicht seine verlotterten Saufkumpanen.
Als ich ihn das erste Mal sah, hatte er seit Wochen nicht geduscht, geschweige denn die Klamotten gewechselt. War auch schlecht möglich, er hatte nur die eine Jogginghose.
Da war beim besten Willen nichts, was ein intelligenter erwachsener Mensch hätte lieben können.
Nicht auf den ersten Blick.

Beim näheren Hinsehen entpuppte er sich jedoch als durchaus liebenswert. Was immer an meinem Auto zu tun war, wurde prompt und zuverlässig erledigt. Ich brauchte nur anzurufen, und er war da, der Retter meiner Mobilität.
Ich habe selten eine solche Liebe zum Fach und eine solche Hingabe zu seinem Beruf gesehen wie bei diesem Mann. Dieser verlotterte, heruntergekommene Penner, der für nichts zu begeistern war, blühte plötzlich auf, setzte all sein Können und Wissen ein, erklärte, was er machte und warum, und legte ein unglaubliches Improvisationstalent an den Tag.
Er war mitreißend in seiner Begeisterung. Halbe Sachen machte er nicht. Er weigerte sich, am Auto zu pfuschen. So blau konnte er gar nicht sein, daß er die Verantwortung vergaß, die er für die Fahrer hatte.

Im Gegensatz zu M. hielt er, was er versprach, und versprach nichts, was er nicht halten konnte. Er schwätzte nicht herum, er laberte mich nicht voll. Das war das genaue Gegenteil von dem, was ich zu Hause hatte. Viel Geschwafel, das Blaue vom Himmel, und die Ausführung der angekündigten Großtaten wurde dann geflissentlich mir überlassen, und wehe, ich funktionierte nicht.

Bei Tom konnte ich mich ausruhen. Ich konnte zusehen, und einfach die Seele baumeln lassen. Kein Tanja, tu dies, Tanja, mach das, kein Hinterherschnüffeln, keine Kontrolle.
Eigentlich wollte ich nicht Tom, ich wollte diese Ruhe. Dieses Ich- sein- dürfen. Diese Anspruchslosigkeit. Ich habe das ganz egoistisch genossen.

Ich hatte das Gefühl, Tom etwas zurückgeben zu wollen. Nicht, daß er etwas von mir erwartet hätte. Es reichte ihm, für seine Schrauberdienste über den Tag mit Alk versorgt zu werden.
Wir einigten uns auf einen Kompromiß; ich brachte Bier mit, Schnaps besorgte er sich bei Gelegenheit selbst, und ich machte ihm einen Freßkorb fertig.
Später gab es gar keinen Alkohol mehr von mir.
Ich kümmerte mich als Ausgleich um ihn, sorgte dafür, daß er regelmäßig duschte, kaufte ein paar Klamotten, besorgte neues Bettzeug und wusch seine Sachen. Alles so still und leise vor mich hin. Geschenke wollte er nicht, also drehte ich es so hin, daß er das als Gegenleistung für irgendetwas nehmen konnte, dann war es okay.
Es war wie ein Spiel, und es begann, mir Spaß zu machen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich versuche einen scheuen Straßenköter zu zähmen.
Das geht auch nur, wenn man mit dem Risiko leben kann, daß man gebissen wird.

Schon bevor sich M. als Lebensgefährte endgültig disqualifiziert hatte, war es im Prinzip um mich geschehen.
Toms allgegenwärtige Saufkumpanen hatten schon längst gerochen, was mit uns beiden los war, und lauerten darauf, daß wir uns endlich eingestehen konnten, daß wir zusammen waren. Für Toms Bande waren wir schon längst ein Paar.

Wir sind im Lauf der Zeit zu einem Team zusammengewachsen. Tom hat Projekte in Angriff genommen, die er schon längst abgeschrieben hatte, und ich habe mein Möglichstes getan, ihn dabei zu unterstützen. Ich habe bei ihm eine Stabilität gefunden, die ich bisher in meinem Leben nicht hatte. Seine Geradlinigkeit hat abgefärbt und mein Rumeiern ausgeglichen. Ich bin jetzt unglaubliche vier Jahre in der selben Firma, und der Job macht mir immer noch Spaß.
_________________________________________

Nachdem Tom die beiden theoretischen Teile der Meisterschule beendet hatte, fiel er in ein Loch. Er soff wieder mehr, weil er nichts mit sich anzufangen wußte. Er hatte sich die ganze Zeit mehr oder weniger am Riemen gerissen, und der stabilisierende Effekt der Schule fiel jetzt plötzlich wieder weg.
Er war gefrustet, ich war genervt. Wir lagen uns wieder wegen jeder Kleinigkeit in den Haaren. Im Prinzip hatte ich es nicht anders erwartet. Aber ich hatte die berechtigte Hoffnung, daß im Mai wieder besser werden würde, da begann die praktische Ausbildung.

Ihm kamen Zweifel, ob er das schaffen würde. Die Theorie hatte er nur mit viel Glück überstanden, gegen das, was jetzt kam, war das ein Spaziergang gewesen.
Sieben Monate nur büffeln.
In Gedanken hatte er bereits versagt, das war natürlich Gift für das kleine bißchen Selbstachtung, was da zögerlich angefangen hatte zu keimen.
Kurz, er war drauf und dran, das Ganze zu schmeißen, es konnte ja sowieso nur schiefgehen. Dazu kam, daß ich langsam aber sicher auch ein wenig eklig wurde; ich hatte Hoffnung geschöpft, weil er seinen Konsum eindeutig gedrosselt hatte während der Schule, und jetzt das!
Nicht nur, daß er wieder mehr trank, vor allem, daß er sich derart hängen ließ, zerrte an meinen Nerven.

Er sah ein, daß es so nicht mehr weitergehen konnte und nahm wieder Kontakt zur Caritas auf. Mit dem Herrn dort hatte er vor Jahren schon einmal zu tun gehabt. Der empfahl ihm eine Psychologin, die uns aber weiterschickte zu einem Kollegen.
Tom nahm all seinen Mut zusammen und ging hin.
Er bekam einen Therapieantrag für seine Krankenkasse und einen Termin.
Den nahm er auch wahr, aber, oh Wunder, er war schon nach 10 Minuten wieder draußen. Völlig entrüstet berichtete er, daß der Herr Doktor S. sich geweigert hat, mit ihm zu arbeiten, so lange er alkoholisiert wäre oder Entzugserscheinungen hätte. Unverschämtheit!
Ich glaubte nicht daran, daß er den nächsten Termin wahrnehmen würde.
Weit gefehlt. Meinen Tom hatte der Ehrgeiz gepackt. Der Termin war Dienstag, und er hatte sich vorgenommen, dort ausgenüchtert und ohne Entzugserscheinungen hinzugehen.
Jaja, dachte ich, erzähl du.

Den Mittwoch vorher hatten wir einen Riesenkrach. Er war derart besoffen, daß er mit Hund auf dem Arm stolperte und die Flurkommode zu Kleinholz zerlegte. Der Hund hat Glück gehabt, er ist noch rechtzeitig gesprungen. Die Kommode war Schrott.
Ich habe mir jeglichen Kommentar verkniffen und ihn ins Bett gesteckt.

Am nächsten Morgen hab ich ihm dann gesteckt, was ich von der Aktion gehalten habe. Die Trümmer der Kommode hatte ich liegengelassen.
Viel gesagt habe ich eigentlich nicht, ich habe ihn nur gefragt, ob er sich vorstellen könnte, wie das ausgegangen wäre, wenn er statt des Hundes ein Baby auf dem Arm gehabt hätte. Oder wenn es nicht die Kommode gewesen wäre, sondern ein Kinderbett.
Tom hat sich meine Phantasien angehört und ist erst ins Bad und dann wieder ins Bett gegangen.
Dort lag er immer noch, als ich abends von der Arbeit kam. Ganz kleinlaut und ohne einen Ton zu sagen, kam er vorgekrochen, kippte kommentarlos seine gesamten Bier- und Schnapsvorräte ins Klo und verschwand wieder.
Er blieb das gesamte Wochenende im Bett. Ich hielt Wache, mit dem Telefon im Anschlag. Ich habe einen Mordsschiß gehabt, daß irgendetwas schief geht.

Es ging nichts schief.
Tom hat Glück gehabt.
Er ging am Dienstag zu seinem Doktor, nüchtern und ohne Entzugserscheinungen.
Ich weiß bis heute nicht, was die Beiden da besprochen haben, ich weiß nur, daß es geholfen hat.

Seitdem ist Ruhe. Er hat seinen Meisterbrief gemacht, so wie er alles durchzieht, was er sich vorgenommen hat.
Nach der Meisterschule kam wieder ein Loch, aber diesmal hatte er andere Methoden, damit umzugehen, als den Alkohol.


Davon beim nächste Mal. Jetzt raucht meine Tastatur...

Ganz liebe Grüße an Euch alle, und vielen Dank fürs Zuhören!

Tanja


Spieler Offline




Beiträge: 7.888

29.11.2006 16:19
#10 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hi Tanja,

ich bin schwer beeindruckt
Der Weg, den du mit deinem Tom gegangen bist und wohl auch noch gehst, ist ja auch eine Form von "in Liebe loslassen" und dem Alkoholiker seine Selbstverantwortung lassen.
Wozu eine unglaubliche Geduld und eine sehr tiefe Zuneigung gehören. Denn du läßt die Krankheit beim Kranken.
Schon klasse

Jörg


Seele62 Offline



Beiträge: 635

29.11.2006 21:52
#11 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hallo Tanja,
alle Achtung!


natter Online




Beiträge: 1.276

30.11.2006 23:46
#12 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hi Tanja,
ich kann mich dem allgemeinen Applaus nur anschliessen! Wenn ich einen Hut auf hätte, würde ich ihn jetzt ziehen !
Ich Drück Euch die Daumen
Thomas


spannikind Offline




Beiträge: 26

01.12.2006 09:30
#13 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Guten Morgen, Ihr alle!

Herrje, Ihr macht mich noch ganz verlegen hier.

Tom hat gestern etwas gesagt, was ich sehr schön und anrührend fand: Er sagte, er hätte ein Bäumchen gepflanzt, dieses Bäumchen heißt Abstinenz. Und jetzt trägt das Bäumchen Früchte. Den Meisterbrief, das Selbstwertgefühl, die Zufriedenheit, all das hängt an seinem Bäumchen, und er will sich überraschen lassen, was da noch für Blüten kommen.

Ich fand diesen Vergleich passend. Man pflanzt einen Samen in die Erde und wartet, was dabei herauskommt. Man gießt und düngt, hätschelt und pflegt das Ganze. Und wenn man alles richtig gemacht hat, dann wächst und gedeiht der Baum, und irgendwann kann man ernten.
Das geht nicht von heute auf morgen, das braucht seine Zeit. Man braucht viel Geduld dafür. Aber es lohnt sich, weil die Früchte gut sind.

Bei jedem sieht der Samen anders aus. Und er muß auf fruchtbaren Boden fallen, sonst kann er nicht anwachsen.
Ich weiß nicht genau, wie Toms Samen aussah und auf welchen Boden er gefallen ist.

Er hat sich ein paar mal mit dem Herrn Doktor getroffen. Ich hatte nicht gedacht, daß er tatsächlich nicht mehr trinken will. Ich kannte ja seine vorherigen Versuche.
Eigentlich war ich schon fast davon ausgegangen, daß ich vor jedem Termin wieder mit dem Telefon im Anschlag Wache halten würde, weil er erstmal nüchtern werden muß, bevor er zu seinem Doktor geht.
Aber weit gefehlt.
Wie immer, wenn in Tom irgendwas vorgeht, lag er viel im Bett. Er schläft dann nicht, er döst vor sich hin und sortiert seine Gedanken. Er war verschlossen wie eine Auster, ein untrügliches Zeichen, daß in ihm irgendetwas vorgeht.
Ich ließ ihn. Es hätte keinen Sinn gehabt, nachzufragen. Insgeheim rechnete ich aber jeden Tag damit, daß er betrunken ist, wenn ich heimkomme. Und freute mich, wenn es nicht so war.

Ich glaube, ich war nie mißtrauischer als in dieser Zeit. Ich traute dem Frieden nicht. Ich kannte ihn ja so gar nicht. Ich erwischte mich sogar bei dem Gedanken, wann trinkt er endlich, damit hier alles wieder seinen gewohnten Gang geht?

Im Mai kam die Schule. Wir sahen uns kaum. Wir standen um fünf auf, ich brachte ihn um sieben zum Bahnhof. Wenn ich um halb eins ging, war er noch weg, und wenn ich um halb neun heimkam, lernte er oder war schon im Bett.
Manchmal, wenn ich frei hatte, fuhr ich ihn auch zur Schule und verbrachte den Tag in der Stadt.
Ich hatte wieder die Nebenrolle. Aber mit der Meisterschule teilte ich Tom lieber als mit dem Alkohol.
Im November waren die Prüfungen. Ich fieberte selbstverständlich mit. Mein Chef war so nett und gab mir frei.
Heiligabend kam der Meisterbrief per Post.
Ich traute der Sache mit der Abstinenz immer noch nicht so richtig. Er war für die Schule nüchtern geblieben, und die Schule war vorbei, also konnte er ja wieder.

Für seine Schule hatten wir einen Computer angeschafft (bzw. von einem Freund bekommen).
Der löste jetzt quasi Toms Büffelei ab und vertrieb die Langeweile, wenn ich nicht zu Hause war. Das Ding wurde in alle Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut, er grub in den tiefsten Tiefen von BIOS und Betriebssystem. Einen Brief in Word schreiben konnte er nicht, aber am Mainboard hatte er schon rumgelötet.

Nebenher lief das Projekt Führerschein. Er wollte ja wieder in seine Beruf zurück, und als Kfz-ler sieht es ohne Führerschein ziemlich mau aus.
Nach 10 Jahren ist der ganze Mist verjährt, sagte man uns, dann können Sie ganz normal wieder einen Führerschein machen.
Also gut. Die 10 Jahre waren 2004 abgelaufen, also stellten wir den Antrag. Immerhin war schon 2005.
Irgendwann kam Post von der Kreisverwaltung. „ Aufgrund Ihrer Trunkenheitsfahrt vom..... mit einer BAK von 1,7 ‰ ....blah, schwafel......... bestehen Zweifel an Ihrer körperlichen, geistigen und charakterlichen Eignung............blah, blah, mit freundlichen Grüßen" usw usf.

Doll. Also ließ ich wieder die Telefone heißlaufen und fand heraus, daß 1. die Verjährungsfrist nicht am Tattag, sondern an dem Tag zu ticken beginnt, an dem die Sperrfrist abläuft, und 2. sowieso erst nach 5 Jahren.
Nach x Telefonaten, stundenlangen Internetrecherchen und einem persönlichen Gespräch mit der Leiterin der Führerscheinstelle stand also fest: Tom kommt um eine MPU nicht herum.

Das wurde dann unser neues Projekt. Nicht nur abstinent leben, sondern das auch beweisen können.
Tom zog alle Register. Unsere erste Anlaufstelle war die Caritas mit einem MPU- Vorbereitungskurs. Wir bekamen dort alles an die Hand, was wir wissen mußten. Das Wichtigste, was wir dort mitnahmen war: Du kommst nicht durch, wenn Du Dein Leben nicht völlig umkrempelst.

Wir krempelten also. Das war die Zeit, in der wir richtig anfingen miteinander zu sprechen. Über uns, unsere Vergangenheit, unsere Gefühle, alles. Wir hatten Arbeitsblätter bekommen, die wir anfingen durchzuackern. Wir kämmten Toms Vergangenheit durch. Wir malten eine Trinkkurve, die Tom helfen sollte, zu erkennen, in welchen Situationen er viel oder wenig getrunken hatte. Wir suchten nach Trinkmotiven. Wir fanden heraus, was bei seiner jetzigen Abstinenz anders ist als bei seinen früheren Versuchen. Wir entschlüsselten, was er jetzt macht in Situationen, in denen er früher getrunken hatte.
Wir haben alles aufgeschrieben. Ich fand, daß das, was wir da herausfanden, zu wertvoll war, als daß es irgendwann in Vergessenheit gerät.
Die Mappe ist mittlerweilen fast 5 cm dick.

Tom sammelte Blutwerte. Alle sechs Wochen ließ er sich beim Doc piksen.

Im Februar machte er eine „MPU light“, ein Einzelgespräch mit einem Psychologen vom TÜV, um herauszufinden ob er schon fit war oder ob noch irgendwo Defizite sind.
Der meinte, daß das, was Tom so erzählte, glaubwürdig sei, daß er aber möglichst noch ein weiteres halbes Jahr Blutwerte sammeln solle, und daß er bessere Karten hätte, wenn er in eine Selbsthilfegruppe ginge.

Für Tom ein Greuel. Fremde Menschen. Reden. Sich öffnen. Geht ja gar nicht.
Wir sind am selben Abend noch hingefahren. Es hat sich gelohnt, es hat eine Menge gebracht.

Unsere Gespräche haben sich fortgesetzt und deutlich an Qualität gewonnen. Oft haben wir auch Anstöße in der Gruppe bekommen, die wir dann unter der Woche durchgekaut haben.

Im September hat er seine MPU bestanden, nach einem Jahr Vorlaufzeit, beim ersten Versuch.
Er hat sich sofort mit seiner Fahrschule in Verbindung gesetzt und ein paar Tage später mit der Theorie angefangen.
Gestern hat er seine praktische Prüfung bestanden.

War schon komisch, auf der Beifahrerseite einzusteigen. Nach 10 Jahren selber fahren sich fahren lassen... Muß ich mich echt erst dran gewöhnen.

Ich glaube, Tom hat das noch gar nicht so recht begriffen. Bei ihm braucht sowas immer etwas länger, bis es ankommt. Der freut sich frühestens morgen darüber.
Jetzt schläft er noch. Ich werd mal einkaufen fahren, dann hat er den ganzen Tag das Auto für sich und kann seinen Lappen ausprobieren........

Liebe Grüße an alle,

Tanja


Sonnensturm ( gelöscht )
Beiträge:

01.12.2006 16:53
#14 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Hallo Tanja,

ich mag Deinen Schreibstil sehr, so flüssig und lebenslustig und eine sehr schöne Geschichte, die das Leben schrieb.

Mir fällt auf, daß Du ganz viel über Tom schreibst und ganz wenig über Dich selbst.

Hat das einen Grund?

Du malst ein sehr schönes plastisches Bild von Tom hier, wie ich finde, nur von Dir und Deiner Persönlichkeit und was Dich, unabhängig von Tom so als Mensch ausmacht und beschäftigt, bekomme ich irgendwie fast gar kein so richtiges Bild aus Deinen Schilderungen, weil sich so viel, was Du schreibst, in erster Linie m.E. um Tom dreht.

Ist das so von Dir gewollt?

lg
sonnensturm


Seele62 Offline



Beiträge: 635

01.12.2006 18:30
#15 RE: Ein Blick zurück Zitat · Antworten

Mir geht es da anders,Sonnensturm
Ich habe das Gefühl Tanja recht gut zu kennen, durch das was sie schreibt. Es sagt viel über sie und ihre Persönlichkeit aus.
Tanja


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