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Saufnix  
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Dieses Thema hat 3 Antworten
und wurde 503 mal aufgerufen
 Kuddelmuddel
Elefantino Offline




Beiträge: 4.209

02.12.2007 17:02
RE: Der Straßenmusikant Zitat · Antworten

( auch eine Weihnachtsgeschichte )

Ich wohne in einem gemütlichen grünen Vorort von Hamburg. So klein unser "Dorf" auch ist, stellt es doch einen beliebten Einkaufstreffpunkt für die Menschen in der Umgebung dar. Alteingesessene Einzelhandelsgeschäfte reihen sich in der Dorfstraße aneinander und trotzen gemeinsam dem allgegenwärtigem Trend zum All-in-one-Shopping-Center.

Etwa in der Mitte dieser Einkaufszeile für den gehobenen Geschmack und gutgefüllten Geldbeutel bezieht - werktags pünktlich um 10 Uhr - Straßenmusikant Nicolay seinen Arbeitsplatz. Bewaffnet mit einem Akkordeon, eher unterdurchschnittlichem Talent und einem Repertoire von nur 3 1/2 Liedern gibt er, vor einer Buchhandlung und dem benachbarten Spielzeuggeschäft, in einer Endlosschleife den "Schneewalzer", "In München steht ein Hofbräuhaus" und "Ein Schiff wird kommen" zum besten. Auch Fragmente eines vierten Stücks streut er ein, allerdings so unvollständig, dass niemand bislang zu erkennen vermochte, um welches Lied es sich handeln könnte.

Auf etwas saisonale Abwechslung im Programm wartet der geneigte Zuhörer vergebens. Keine Weihnachtslieder zum Advent, und auch im Hochsommer bei 35 Grad im Schatten intoniert Nicolay ungeniert den "Schneewalzer".

Vor dem Künstler steht ein kleines Kästchen zur Aufnahme von Kleingeld, das spendable Passanten für ihre Teilhabe an dem fragwürdigen Kulturgenuß entrichten.

Oft habe ich gezweifelt, ob dieses Geschäft den Mann wirklich ernähren kann. Gestern, als ich vor dem Spielzeuggeschäft auf eine dort arbeitende Freundin wartete, kam ich mit Nicolay, der gerade Pause machte, ins Gespräch und wurde eines besseren belehrt:

Nicolay ist etwa 50 Jahre alt, kommt aus Rumänien und spricht nur wenig Deutsch. Mit "Händen und Füßen" können wir uns aber doch unterhalten. So erfahre ich, dass er gemeinsam mit seinem Sohn in Rumänien ein Haus baut. Deswegen fährt er mehrmals im Jahr für einen Zeitraum von 3 Monaten ( länger darf er am Stück nicht bleiben ) nach Deutschland, um Geld zu verdienen.

Während wir uns unterhalten, wird Nicolay von einer älteren Dame angesprochen:

ältere Dame: "Guten Tag, Herr Nicolay!"

Nicolay: "Guten Tag!"

ältere Dame: "Der Sturm hat gestern in meinem Garten einen Ast angeknickt, der muß wohl abgesägt werden.."

Nicolay: (interessiert) "Ja?"

ältere Dame: "...und mein Fido musste zum Tierarzt, er hatte in einen Igel gebissen...."

Nicolay: (bestürzt) "Jaaa?"

ältere Dame: "...er ist aber schon wieder ganz o.k. Bis bald Herr Nicolay!"

Nicolay: "Bis bald!"

Die Frau wirft einen Euro in Nicolays Kästchen. Ich bin ziemlich sicher, dass Nikolay nicht den ganzen Inhalt ihrer Mitteilungen verstanden hat, aber er ist trotzdem ein charmanter Zuhörer, stets lächend und gelegentlich ein "Jaaa" einwerfend. Schon nähert sich ein Mann.

Mann: "Frierst Du gar nicht, Nicolay?"

Nicolay: "Heute Wetter schlecht. Und noch drei Tage. Mittwoch aber wieder gut!"

Mann: "Na dann halt dich mal warm!"

Der Mann wirft 50 Cent in das Kästchen. Nicolay wärmt sich mit dem Kaffee, den die freundlichen Mitarbeiterinnen der Buchhandlung zusammen mit ein paar Schnittchen herausgebracht haben. Ich registriere: Der Mann wird gesponsort.

Langsam verstehe ich besser. Nicolay lebt nicht von der Musik allein. Die Leute mögen ihn einfach. Und das ist kein Wunder. Auch mir "fehlte" er bereits, als er neulich für ein paar Wochen in Rumänien war....

Nun bleibt ein kleiner Junge vor Nicolay stehen, zieht seinen Vater am Hosenbein und deutet auf das Akkordeon.

Junge: "Da, lalla!"

Eilfertig trennt sich der Rumäne von Kaffee und Schnittchen, um " Ein Schiff wird kommen " zu intonieren. Besonders schief diesmal. es klingt eher nach Schiffsuntergang.
Seufzend zieht der Vater sein Portemonnaie und gibt Sohnemann einen Euro, den dieser Nicolay zukommen lässt. Der kleine Junge grinst, Nicolay bedankt sich lächelnd.
Auch ich gebe Nicolay noch einen Euro und verabschiede mich dann von ihm, da meine Freundin nun Feierabend hat.

Drei Euro fünfzig immerhin in zehn Minuten. Für etwas Small-Talk, eine Wettervorhersage und ca. 10 Takte Musik.

Trotzdem bin ich überrascht, als meine Freundin mir von dem großen Einkauf erzählt, den Nicolay am Morgen im Spielzeuggeschäft tätigte. Weihnachtskarten für 80 Euro!!
Auf die Frage, wofür er so viele Karten benötige, hatte der Musikant nicht ohne Stolz geantwortet: " Für meine Kunden!"

Während wir zu meinem Auto gehen, überlege ich, ob Nicolay die Karten wohl bei der Steuerklärung unter Werbungskosten absetzen kann. In der Ferne erklingen die ersten Takte des "Schneewalzers"....



LG

Christoph

Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche


F.W. Bernstein


Spieler Offline




Beiträge: 7.888

02.12.2007 17:41
#2 RE: Der Straßenmusikant Zitat · Antworten

Die Weihnachtszeit scheint was Schönes in den Menschen zu fördern. Diese Geschichte ist richtig gut, Christoph, sie hallt nach
Und die von Depri ist ebenfalls klasse.


Nonick Offline




Beiträge: 1.102

02.12.2007 23:13
#3 RE: Der Straßenmusikant Zitat · Antworten

Hi Chris

Wenn Weihnachten ein Fest ist das den Menschen solche Geschichten durch die Finger in die Tasten fließen läßt ......dann überleg ich mir Weihnachten doch so ein kleines bischen zu mögen.

LG

Tina

PS.: Sammelt aus dem Forum schon jemand diese "Goldstücke" um ein Saufnix-Bestseller draus zu machen??

Laut Miracoli bin ich 2 bis 3 Personen.:zwinker1: Ich selbst bin sicher das ich noch viel mehr bin. :zwinker1:


Elefantino Offline




Beiträge: 4.209

03.12.2007 11:23
#4 RE: Der Straßenmusikant Zitat · Antworten

Hi Jörg und Tina!

Die Geschichte ist selbst erlebt, sie war zu unfertig für einen Veröffentlichungsversuch, und ich war nicht sicher, ob sie in das Kolumnenformat bei der taz, wo ich ja schon mal geschrieben habe, oder sonst irgendwo passen würde...

Schreiben wollte ich sie aber trotzdem !

Also musste das Forum "dran glauben"....

Ich habe mich sehr gefreut, dass es euch gefallen hat!



LG

Christoph

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F.W. Bernstein


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